Neurophysiologie  12.11.2001

Träume festigen das Gedächtnis


Die Frage, woraus unsere Träume gestrickt sind, fasziniert Menschen seit Jahrtausenden. Auch moderne Naturwissenschaftler versuchen sich als Traumdeuter. Sie sehen in Träumen aber keine Zukunftsprognosen, sondern ein Mittel des Gehirns, aus den Erlebnissen vergangener Tage zu lernen. Noch stehen diese Deutungen aber auf unsicheren Füßen, wie Aufsätze in der Fachzeitschrift "Science" zeigen.



Den modernen Traumdeutungen zufolge ordnen Träume das Gedächtnis. Dabei purzeln schon bei den ersten Träumen der Nacht, die noch sehr realistisch sind, die Erinnerungen durcheinander. Dem Schlafenden gehen meist Bilder des vergangenen Tages durch den Kopf. Darunter mischen sich aber ähnliche Eindrücke von weit zurückliegenden Ereignissen, fanden Forscher um Robert Stickgold von der Harvard-Hochschule in Boston.

Richtig bizarr werden aber erst die Traumgebilde der so genannten REM-Schlafphasen, die vor allem in den frühen Morgenstunden auftreten. Äußerlich sind diese leicht zu erkennen: Die Augen der Schlafenden flackern wild, die Atmung geht schnell und unregelmäßig. Die Skelettmuskeln dagegen scheinen seltsam gelähmt. Forscher vermuten, dass sich der Körper vom Gehirn abkoppelt, um die wilden Hirngespinste während des REM-Schlafs nicht mitmachen zu müssen.

Das Denkorgan ist in solchen Traumphasen völlig enthemmt: Mit hirnabbildenden Methoden fanden Forscher, dass das Gehirn Kontrollinstanzen, die auf Logik achten, im Schlaf einfach abstellt. In REM-Phasen werden zudem Gehirnareale des "limbischen Systems", die Gefühle hochkochen lassen, besonders aktiv. Mit dem Gefühlsüberschwang, so vermutet Stickgold, prüfe das Gehirn frische Gedächtnisinhalte und entscheide, was der Schlafende sich merken soll.

Dass man im Schlaf tatsächlich lernt, zeigte Stickgolds Forschungsteam kürzlich in einer Schlafentzugs-Studie. Probanden übten einen Tag lang, um die Richtung von schrägen Balken zu erkennen, die auf einem mit waagrechten Strichen überzogenen Bildschirm kurz aufblinkten. Nach dem Trainingstag wurden einige der Studienteilnehmer in der Nacht und am nächsten Tag wachgehalten, durften dann aber zwei Nächte normal durchschlafen.

So ausgeruht, setzten sich die Probanden erneut vor den Bildschirm: Sie hatten nichts gelernt. Es bereitete ihnen wie am ersten Tag Mühe, die Richtung der schrägen Balken anzugeben. Probanden dagegen, die in der ersten Nacht nach dem Training ruhig schlafen durften, waren jetzt deutlich besser.

Auch direkt am Gehirn von schlafenden Menschen und Tieren konnten Forscher Lernprozesse beobachten. Besonders eindrucksvoll gelang das amerikanischen Wissenschaftlern an Zebrafinken: Deren Jungtiere erlernen das Singen buchstäblich im Schlaf. Tagsüber hören die Vögel das Gezwitscher ihrer Eltern und versuchen selber zu singen. In der Nacht sind sie still. Die Nervenzellen im Gehirn aber, die den Gesang steuern, arbeiten weiter. Die Vögel träumen vom Singen und merken sich dabei die Tonfolgen, vermuten die Forscher. Sie glauben, dass der Mensch auf ähnliche Weise seine Sprache erwirbt.

Schlafende scheinen vor allem in den REM-Phasen zu lernen. So steigt etwa der Anteil des REM-Schlafs bei Menschen und Tieren nach einem lernreichen Tag. Ist aber das Neue einstudiert - etwa ein neuer Bewegungsablauf -, nimmt der REM-Anteil des Schlafes wieder ab. Auch "Aufweckstudien" deuten auf ein Lernen in den REM-Phasen. Wurden Probanden immer geweckt, sobald sie in REM-Schlaf verfielen, lernten sie kaum. Schüttelten die Forscher sie dagegen erst nach den REM-Phasen aus dem Schlaf, hatten sie keine Lerneinbußen.

Für den Lernprozess setzt das Gehirn eine biochemische Maschinerie in Gang, die die Nervenzellen neu vernetzt und so die fragilen Erinnerungen vom Tag im Gehirn verankert. Dazu wird in REM-Phasen das Gen mit dem Kürzel "zif-268" aktiviert, dass solche Strukturänderungen einleitet. Zudem setzt im Schlaf eine rege Produktion von Eiweißen ein, die für den Umbau der Nervenstrukturen verwendet werden.

Die Deutung der Träume als Lernphasen überzeugt jedoch nicht alle Schlafforscher. Jerome Siegel von der Universität von Kalifornien in Los Angeles führt im Fachmagazin "Science" mehrere Gegenargumente an: So haben etwa Menschen keine Gedächtniseinbußen, die über Jahre REM-Phasen unterdrückende Antidepressiva schlucken. Auch bei Patienten, die nach Hirnschädigungen keinen REM-Schlaf mehr haben, funktioniert das Gedächtnis normal.

Überhaupt scheine der REM-Schlaf nicht besonders clever zu machen, sagt der Forscher: Das nicht gerade für seine Hirnleistungen bekannte Schnabeltier etwa schwebe jeden Tag acht Stunden in REM-Träumen und damit viermal so lange wie Menschen. Und Delphine, die ein komplexes Sozialleben haben und komplexe Abläufe erlernen können, verbringen gar nur gut zehn Minuten pro Nacht in der REM-Phase. Demnach müsse die Behauptung, im Schlaf bilde sich das Gedächtnis, zumindest als nicht erwiesen gelten, meint Siegel.

Damit sind die Menschen weiterhin auf Traumdeuter angewiesen, um endlich einmal zu erfahren, was sie eigentlich während eines Drittels ihres Lebens machen.

Marcel Falk

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